Vom Hunger nach Charisma.

Blick in den Maschinenraum der Disziplin

In Zeiten, die als krisenhaft erlebt werden, wird schnell der Ruf nach Helden laut. Schwindet das Vertrauen in die politischen Akteure, richten sich die Hoffnungen auf außergewöhnliche Figuren. Stressresistent und mit Weitblick gesegnet, agieren diese mit kühlem Verstand, handeln entschlossen. Männer wachsen dabei über sich hinaus, bestehen eine Prüfung. Helmut Schmidt bezwingt im Februar 1962 die Hamburger Sturmflut etc.

In der Wissenschaft ist das kaum anders. Auch hier kommt es zu Krisen; und auch hier sind Lichtgestalten gefragt, wird Charisma geschätzt. Das Skript dazu stammt aus der Feder von Max Weber, der 1917 eine vielbeachtete Rede hält, die bis heute nachklingt. Weber entwirft in „Wissenschaft als Beruf“ den Professor als eine heroische Gestalt, die sich von allen Bindungen losreißt und sämtliche geistigen Kräfte aufbietet, um eine Spezialfrage beantworten zu können (vgl. Weber 2018).

Will man die Krisen, von denen der Call spricht, indes zum Anlass nehmen, die eigene wissenschaftliche Praxis zu überprüfen, ist es notwendig, mit solchen Narrativen zu brechen und sich vom Bild des (männlichen) Meisterdenkers zu lösen. Die wissenschaftliche Selbstreflexion wird sich erst dann entscheidend steigern lassen, wenn wir den Blick in den Maschinenraum der Disziplin lenken, wenn wir deren Feinmechanik untersuchen.

Angeregt von aktuellen Beiträgen aus Philosophie, Kultur- und Sozialwissenschaften, die sich um eine Praxeologie der Universität bemühen (vgl. Etzemüller 2019; Amlinger 2022; Martens/Spoerhase 2022), schlage ich vor, die Erziehungswissenschaft als ein soziales Feld zu fassen, das sich der Verkettung scheiternsanfälliger, vielfach gerahmter, aufeinander verweisender Praxisvollzüge verdankt. Dabei geraten Praktiken des Lesens und Schreibens, des Forschens und Lehrens, des Auftretens und Ausbildens in den Blick.

Noch stärker als die genannten Autor*innen, denen wir brillante Analysen der Mikropraktiken des wissenschaftlichen Feldes verdanken, interessiere ich mich für jene Verfahren, über die Un-/Zugehörigkeit hergestellt wird. Praktiken der Reglementierung, Disziplinierung und Schließung werde ich daher besondere Aufmerksamkeit schenken (vgl. Sonderegger 2016; Markow 2023). Das betrifft das disziplinäre Gedächtnis und die akademische Lehre, aber auch die Formierung wissenschaftlicher Subjekte. Ein praxistheoretischer Zugang taucht daher nicht nur die Erziehungswissenschaft in ein neues Licht: Er zeigt auch die Unterbrechung der Routinen – das Moment der Krise – als eine Möglichkeit, neue Praktiken einzuführen und andere Formen des Strebens nach Erkenntnis zu erproben.

Literatur

  • Amlinger, Carolin (2022): Schreiben. Eine Soziologie literarischer Arbeit. Suhrkamp.
  • Etzemüller, Thomas (Hrsg.)(2019): Der Auftritt. Performance in der Wissenschaft. transcript.
  • Markow, Jekaterina (2023): An der Schwelle. Soziale Ausschlüsse in der Philosophie. Campus.
  • Martus, Steffen/Carlos Spoerhase (2022): Geistesarbeit. Eine Praxeologie der Geisteswissenschaften. Suhrkamp.
  • Sonderegger, Ruth (2016): Praktiken im Vollzug, in der Theorie und als Objekt der Kritik. Eine sehr kurze Einführung in Praxistheorien. In: Elke Gaugele/Jens Kastner (Hrsg.): Critical Studies. Kultur- und Sozialtheorie im Kunstfeld. Wiesbaden: VS, S. 303-323.
  • Weber, Max (2018): Wissenschaft als Beruf. Hrsg. und eingeleitet von Matthias Bormuth. Matthes&Seitz.
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