Krise und Transformation
Abstract zum Eröffnungsvortrag des 29. DGfE-Kongresses 2024 an der Universität Halle a.d.S.
Erziehungswissenschaft lässt sich als Krisenwissenschaft fassen. Diagnostizierte Krisen und Krisenerfahrungen sind historisch Begründung wie Legitimität für pädagogische Programme und pädagogische Praxis. Dementsprechend wird zum Beispiel die Modernitätskrise als Geburtsstunde der Pädagogik ausgerufen. Auch der Zusammenhang von Krise und Transformation ist etabliert: In der deutsch- wie englischsprachigen Debatte ist die Figur der Bildung als Transformation einflussreich – als Reaktion auf erfahrene Krisen. Dennoch bleiben gesellschaftstheoretische mit bildungs- wie erziehungstheoretischen Dimensionen in der Fachdebatte häufig eigenartig unvermittelt.
Angesichts dieser Ausgangskonstellation stellt sich die Frage, wie erziehungswissenschaftlich und pädagogisch mit den gegenwärtigen Krisenerfahrungen umgegangen werden kann. Im Vortrag werden Antworten auf die Frage nach möglichen Perspektiven und Positionen gesucht.
Von zentraler Bedeutung für eine entsprechende Auseinandersetzung ist die zeittheoretische Frage nach dem Verhältnis von Gegenwart und Zukunft. Beherrschen Dürers apokalyptische Reiter – Sieg, Teuerung und Hungersnot, Krieg und Tod – als Allesfresser-Kapitalismus, als Inflation und Verarmung, als russischer Angriffskrieg in der Ukraine und lebensbedrohlicher Klimawandel zunehmend das Bild unserer Zeit? Oder können sich post-apokalyptische Hoffnungen in einer alltäglich gelebten und angewandten Solidarität, in Reallaboren transformativer Formen des Lebens und der Ökonomie und in neuen Bündnissen zur Wiedergewinnung der Welt gegen den zunehmenden Katastrophismus durchsetzen? Lassen sich die Erwachsenengenerationen von der Pädagogik der Verzweiflung aus den Reihen der jungen Klimaschutzbewegung irritieren und adressieren, um ihre Position als Zukunftsverantwortliche endlich einzunehmen? Oder pochen diese (‚wir‘) weiterhin auf ihr (‚unser‘) ‚Recht‘ als Konsument:innen: die Erschließung von immer neuen Teilen unseres Lebens und der Welt für den Konsum?
Das Recht auf das Heute wird ohne Morgen gegenstandslos; menschliche Entwicklung ohne Wachstum nicht denkbar. Doch wie kann Bildung und Erziehung die Hoffnung auf das Morgen im Angesicht der planetarischen Krisen unserer Zeit wieder greifbar machen? Wie ist eine Pädagogik, das Wachstum von Kindern und Jugendlichen ins Erwachsenenalter denkbar – wie die damit verbundenen Transformationsprozesse, im Angesicht des notwendigen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen degrowth?
Pädagogischem Denken und pädagogischer Praxis stellt sich aktuell nichts weniger als die Herausforderung, krisen- und transformationspädagogische Perspektiven zu eröffnen und entsprechende Positionen einzunehmen. Das wird erziehungswissenschaftlich nur gelingen, wenn die Vermittlung von gesellschaftstheoretischen mit bildungs- wie erziehungstheoretischen Einsichten zum Ausgangspunkt des Denkens gemacht werden.